Gedanken zum Ursprung der Familie
Die Herkunft unserer Familie liegt im Dunkeln. Als ältester Namensträger wird der Patrizier Gerhard Borries zwischen 1394 und 1432 mehrmals als Ratsherr der Stadt Minden erwähnt. Zwischen 1425 und 1473 wird Hermann Borries als Ratsherr und 1445 als Bürgermeister genannt. Sein Sohn Johann erscheint zwischen 1460 und 1496 als Ratsherr und in einem Zeitraum von 5 Jahren als Bürgermeister. Dessen ältester Sohn Johann ist von 1514 bis zu seinem Tode im Jahre 1541 ständig Ratsherr, sein zweiter Sohn Hermann ebenfalls Ratsherr und für 5 Jahre Bürgermeister. Diese Tradition setzt sich bis zum Ende des 30jährigen Krieges fort, als die Stadt Minden 1648 im Westfälischen Frieden ihre Selbständigkeit verlor und dem Kurfürstentum Brandenburg angegliedert wurde. Bei den Friedensverhandlungen musste der Ratsherr und spätere Bürgermeister Heinrich Borries die Belange der Stadt vertreten. Trotz aller Nachforschungen ist es nicht gelungen, Näheres über die Vorfahren des ältesten Namensträgers Gerhard Borries in Erfahrung zu bringen. Das ist erstaunlich, denn als Patrizier und Ratsherr musste er aus einer bekannten Familie stammen, sonst hätte er kein öffentliches Amt in Minden übernehmen können.
Schon seit 1300 gab es in der Stadt ein Ratswahl-Kollegium, gebildet aus 40 Männern der Kaufmannsgilde und den drei am meisten angesehenen Zünften. Kaufmann durfte sich nur der Großhändler nennen. Von den Zünften waren lediglich Schuhmacher, Bäcker und Knochenhauer an der Ratswahl beteiligt. Diese 40 Männer bestimmten aus ihrer Mitte jährlich 12 Ratsherren, die für die Verwaltung der Stadt verantwortlich waren und aus ihrem Kreis den Bürgermeister bestimmten.
Die Ratsherren übten ihr Magistrat ehrenamtlich aus, genossen aber gewisse Rechte wie die Fischerei, die Jagd und andere. Sie mussten wohlhabende Bürger sein, die Zeit und Geld opfern konnten. Wer zum ersten Mal in den Rat gewählt wurde, hatte die beträchtliche Summe von 200 Goldmark (umgerechnet) zu zahlen, die zur Befestigung der Stadt verwendet wurde. Fiel die Wahl auf einen Meister der drei Zünfte, musste er sein Handwerk aufgeben und zur Kaufmannsgilde übertreten, was ein erhebliches Vermögen zur Voraussetzung hatte. Der Rat setzte sich demnach aus der Schicht der wohlhabenden Bürger zusammen, die seit Generationen in der Stadt bekannt waren.
Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, dass man nichts über die Vorfahren des Patriziers und Ratsherren Gerhard Borries erfährt. Stammte er vielleicht aus anderen Gesellschaftsschichten? Welche sozialen Schichten gab es insgesamt während des Mittelalters in Minden? Die Chronik der Stadt berichtet dazu folgendes: Minden wurde durch Karl den Großen nach der Niederwerfung der Sachsen um 800 als Sitz eines Bistums gegründet und mit ausgedehntem Grundbesitz ausgestattet. Seine Bischöfe waren dadurch nicht nur kirchliche Würdenträger, sondern auch Landesherren. Das Bistum wuchs durch weitere Stiftungen der Könige und Erblassungen des Adels, und reichte schließlich von Osnabrück bis Hannover. Zum Landbesitz gehörten die sog. „Hörigen“, die das Land bebauten. Der Bischof hatte anfänglich nur privatrechtliche Befugnisse über sie. Die Gerichtsbarkeit für diese Hörigen stand einem direkt vom König eingesetzten Grafen zu. Erst im Jahre 977 erhielten die Mindener Bischöfe die ihnen fehlenden Hoheitsrechte: Neben der Gerichtsbarkeit auch das Recht, Münzen zu prägen, Zölle zu erheben und Markt abzuhalten. Diese weltlichen Geschäfte führten jetzt vom Bischof eingesetzte Vögte, die meist aus einem sächsischen Adelsgeschlecht stammten. Das wichtigste Vogt-Amt wurde im Laufe der Zeit zu einem erblichen Lehen ihrer Inhaber. Als Entschädigung für ihre Dienste wurden sie mit Grund und Boden des Bistums belehnt. Dieser Lehnbesitz, der sich von Generation zu Generation vererbte, wurde der Kirche allmählich entfremdet. Häufig vernachlässigten die Lehnsträger ihre Verpflichtungen als Vogt des Bischofs und interessierten sich mehr für ihre eigenen Liegenschaften und deren Vergrößerung. So entstanden aus ursprünglichem Besitz des Mindener Bistums z.B. die Grafschaften Hoya, Ravensburg und Schaumburg. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts war die politische und wirtschaftliche Blüte des Bistums überschritten. Es begann der Aufstieg der kleinen Territorialherren. Gleichzeitig wuchsen auch die Macht und der Einfluss der Stadtgemeinden.
Während des 14. Jahrhunderts übernahm die Bürgerschaft immer stärker die Aufgaben des vom Bischof eingesetzten Stadtvogtes und übertrug sie einem von ihr selbst gewählten Rat. Diesem unterstand zuletzt Gerichtsbarkeit, Steuerwesen, Gewerbe und Verteidigung. Schließlich vertrat der Rat die Stadt gegenüber Kaiser und Reich, auswärtigen Landesfürsten und anderen Städten. Schon Mitte des 14. Jahrhunderts schloss der Rat von Minden selbständig, also ohne Absprache mit dem Bischof, Verträge mit den Städten Münster, Osnabrück und Herford. Wenig später trat die Stadt dem Rheinischen Städtebund bei und gehörte der mächtigen Hanse an.
Die Herrschaft des Bischofs erstreckte sich in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts überwiegend nur noch auf Grundbesitz außerhalb der Stadt Minden. Fehden, die er als Lehnsherr mit den aufstrebenden Lehnsleuten und Nachbarfürsten führen musste, sowie seine fürstliche Hofhaltung kosteten viel Geld. Er wendete sich daher an die wohlhabend gewordene Stadt Minden um Hilfe. Diese nutzte die Schwierigkeiten des Bischofs aus, um ihm weitere Rechte abzuringen.
Die Bischöfe stammten in der Regel aus fürstlichen Häusern und strebten öfter den Idealen ritterlicher Krieger als denen frommer Geistlicher nach. Sie trieben Politik im Interesse ihrer Hausmacht. Privat führten sie ein eher weltliches als geistliches Leben. Ihre kirchlichen Weihen erhielten sie manchmal unter Umständen, die uns heute als haarsträubend erscheinen. Zuvor, d.h. in ihrer weltlichen Lebensphase, waren sie wegen des geltenden Erbrechtes an einer großen Nachkommenschaft interessiert. Solcher Lebensweise blieben viele Bischöfe auch während ihrer geistlichen Tätigkeit treu, obwohl in der Kirche kein Erbrecht besteht, vielmehr den Klerikern Ehelosigkeit auferlegt ist.
Vielleicht sind diese Gebräuche der Grund, warum über die Ahnen des Gerhard Borries absolut nichts in Erfahrung zu bringen ist. Es könnte durchaus Absicht gewesen sein und kein Zufall, wie wir bisher angenommen haben. Allerdings sind wir weiter auf Vermutungen angewiesen. Was spricht z.B. gegen die These, dieser Gerhard Borries habe zur Hausmacht des Bischofs gehört und sei vielleicht sein natürlicher Sohn gewesen? Unterstellen wir, es habe sich so verhalten. Warum sollte der Bischof dann nicht versuchen, diesen seinen Nachkommen für seine eigenen Interessen einzusetzen? Ihn mit einem neuen Familiennamen, den notwendigen Rechten und finanziellen Mitteln zu versehen und ihn dann als Patrizier in den Rat zu schleusen, um wieder Einfluss auf die Stadtpolitik zu bekommen. Das wäre zumindest eine Erklärung, wie ein bis dahin unbekannter Mann in die einflussreiche Stellung eines Mindener Ratsherren gelangen und dieses Privileg seinen Nachkommen vererben konnte. So abenteuerlich diese Version auf den ersten Blick erscheinen mag, sie hat den Vorteil unter den geschilderten Verhältnissen möglich und in ihrer Gesamtheit schlüssig zu sein.
Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass im Jahr 1549 der Bischof von Minden mehrere Adlige und Bürger aus seiner Diözese mit Gütern belehnt hat. Auch der Patrizier Gevekoth begehrte eine Belehnung, erhielt sie aber nicht, weil er fälschlich behauptete adlig zu sein. Ein gleichfalls anwesender Borries erhielt jedoch ein bischöfliches Lehen. Warum wurde der Patrizier Borries in so verletzender Weise dem Patrizier Gevekoth vorgezogen und warum hat Gevekoth nicht dagegen Einspruch erhoben? Offensichtlich waren die Verbindungen zwischen dem Bischof und der Familie Borries sehr eng.
Auch die Wahl unseres Familiennamens bekäme vor diesem Hintergrund einen Sinn, Namensgebungen erfolgten im Mittelalter häufig nach geographischen Gegebenheiten oder nach den Tätigkeiten der Betroffenen. Beide Voraussetzungen waren in unserem Fall nicht gegeben. Wenn der Bischof einen neuen Familiennamen sucht, so ist es unverfänglich und kollidiert nicht mit anderen Interessen, wenn er ihn aus dem kirchlichen Bereich wählt, nämlich nach dem Heiligen Liborius, dessen Reliquien im benachbarten Dom zu Paderborn ruhen.
Vielleicht steht mit dieser „Bischofs-Hypothese“ der nicht gerade übliche Passus in unserem Adel-Erneuerungsbrief aus dem Jahre 1733 durch Kaiser Karl VI in einem ursächlichen Zusammenhang. Dort wird festgestellt, „...dass unsere Vorfahren vor einigen hundert Jahren im adligen Stand gelebt hätten, aber durch äußere Misslichkeiten großen Schaden genommen und ihren adligen Stand eine Zeit lang hätten verbergen müssen...“. Hier könnte es sich um eine elegante Umschreibung der oben vermuteten Herkunft unserer Familie handeln, die im 18. Jahrhundert noch durch mündliche Überlieferung bekannt war: Die adlige Herkunft wird bestätigt, die tatsächliche Abkunft aber verklausuliert. Da die Familie Borries inzwischen zum protestantischen Glauben übergetreten war, in dem die Ehe von Geistlichen erlaubt ist, entfielen Bedenken von katholischer Seite. Das mag in unserem Fall die Bestätigung des Adels erleichtert haben. Bei einer katholischen Familie hätte man in Wien strengere Maßstäbe angelegt.
September 1987 Götz von Borries (O81) 1925-2006