Familienverband von Borries

Internationalisierung und Wertewandel derer v. Borries

Eine Reise wie jede andere, nur eben Neuland! Aber schon bei den Flugbuchungen könnten wir ja familiäre Hilfe von Ilka in Sao Paulo und Raul in St. Cruz in Anspruch nehmen! So war das gedacht, eine "Informationstour mit familiärem Charakter" also!

Daraus entwickelte sich jedoch unerwartet etwas ganz anderes, eine "Seelenreise", der Beginn eines tiefgreifenden Erkenntnis- und Veränderungsprozesses mit nachhaltiger Wirkung, den ich leider im Folgenden nur unzureichend in Worte fassen kann.

Es war nach den nebulösen Vorstellungen, die wir über die ferne Verwandtschaft hatten, nicht nur die plötzlich freie Sicht auf eine sehr repräsentable , äußerst liebenswürdige und liebenswerte Familie, die zu allem Stolz berechtigt, sondern die davon ausgehende intensive Reflektion eigener Werte und Befindlichkeiten, die uns alle (vielleicht sogar die bolivianische Verwandtschaft !?) buchstäblich in ihren Bann zog.

Ende des 19. Jahrhunderts waren drei Borries- Brüder (M 115,117,120) nach Brasilien, Bolivien und Chile ausgewandert. Alle haben sie respektable Familien hinterlassen, die naturgemäß in den Folgegenerationen von der Geografie und Historie ihrer neuen Wahlheimat mit geprägt wurden. Während Brasilien und Chile einen engen Kontakt nach Europa und Deutschland aufrecht erhalten konnten und dadurch auch die Familien in Sprache und Selbstverständnis sehr deutsch blieben, war Bolivien durch seine geografische Insellage weit mehr auf sich selbst konzentriert und insbesondere von deutschen Quellen weitgehend abgeschnitten.

Für Wissenschaftler und Literaten waren abgelegene Inseln schon immer ein höchst geeignetes Experimentierfeld und eine Erkenntnisquelle für evolutionsgeschichtliche und gesellschaftliche Entwicklungen. Wie entwickeln sich Populationen oder Gesellschaften abseits des Mainstreams ? Was war also aus der weitgehend isolierten "Spezies derer von Borries" in der Anden -Region geworden ?

Gelegentlich hatten die Familientage Besuch aus Bolivien: Oscar aus La Paz zum 100. in Niefernheim, Ana Maria und Ramiro in Zons und Virginia mit Mario Adolfo in Stade. Aber als einzelne Borries unter vielen anderen, die man ebenfalls zum ersten Mal sah, war die Wirkung natürlich nicht vergleichbar dem Auftritt von nahezu 200 bolivianischen Borries in einem nie gesehenen, für sich alleine schon überwältigenden Ambiente.

Allein die Zahl ! In dem vielfach größeren Deutschland wäre selbst zu den Familientagen trotz langer Werbung und Vorbereitung eine solche Vielzahl von Borries ganz unvorstellbar. So viele gibt es gar nicht hierzulande ! (Allerdings war dieser Zuspruch auch für dortige Verhältnisse überraschend und einmalig.) Nun haben es die Bolivianer zugegebenermaßen einfacher. Fast alle Borries wohnen in St. Cruz, Cochabamba oder La Paz, zudem sind sie alle relativ eng miteinander über Adolf M117 verwandt (Großvater der jetzt lebenden "Familienpatrone") Im übrigen besitzen die Borries in Bolivien in alter Borries´scher Tradition keine Latifundien, was sie möglicherweise politisch angreifbar machen würde, sondern sie sind zumeist erfolgreiche Freiberufler und höhere Angestellte mit gelegentlichem unternehmerischem Impetus. Bemerkenswert auch die traditionelle Dominanz der Juristen !

Aber ob dies alleine schon den weitaus geschlosseneren und harmonischeren Eindruck unserer bolivianischen Familie auf uns bewirkte ? Oder ist es nicht auch das andere "Biotop", auf das sich das human being, das Mensch-sein in seiner familiären Form hier unmittelbar auswirkt?

Natürlich hat sich die Inselsituation Boliviens in der mobilen Mediengesellschaft weitgehend egalisiert. Auch in Bolivien ist zumindest die gebildete Gesellschaft internationalisiert und Teil des WWW. Gleichwohl erschien uns der viel zitierte Wertewandel und die damit einhergehende Verunsicherung im zwischenmenschlichen Bereich dort bei weitem nicht so fortgeschritten wie in vielen anderen Ländern, insbesondere in Deutschland, das durch einige Sonderentwicklungen möglicherweise gar zum Vorreiter wurde. Umgekehrt mag gerade die abgeschiedene Inselsituation den Bolivianern schon früh die Vorteile einer familiären Bestandserhaltung und traditionellen Identitätsstiftung deutlich vor Augen geführt haben.

Man könnte diese Überlegungen von verschiedenen Seiten angehen, ich begrenze es hier auf familienpolitische Themen:

Die Ehe in ihrer traditionellen Bindungswirkung ist in Auflösung begriffen, jedes zweite Kind wird in Deutschland außerhalb einer ehelichen Beziehung geboren. Dies wirkt sich zwangsläufig auf den Bestand der Familien im engeren und weiteren Sinne aus. Schon die Namensgebung hat ihren ursprünglichen Ordnungsfaktor vielfach verloren. Die Stellung der Frau wurde nicht zuletzt durch diese Entwicklung gestärkt. Das "mater semper certa est" beschreibt damit nicht mehr nur den genetischen Faktor, sondern die Frau bleibt zumeist als alleinerziehende Restfamilie "certa" übrig. Die Auflösung der ehelichen Bindung führt aber zwangsläufig auch zu einer Aufweichung und Zersplitterung der Familienstrukturen überhaupt.

Ein weiteres Phänomen unserer Zeit ist die geradezu sprunghafte Mobilisierung und Internationalisierung der gesamten Menschheit. Schon als Jugendlicher hält man sich fast selbstverständlich zumindest für einige Zeit im weiten Ausland auf.

Die nicht mehr zu bewältigende Fülle an Informationen bedingt wiederum eine zunehmende Beliebigkeit aller Wertevorstellungen und eine Verunsicherung der Erziehungssysteme.

Was aber heißt das für die Familie mit ihrem Wappen "treu und fest " ?

Wir definieren uns als "Borries" auf Grund einer Jahrhunderte alten Tradition. Gäbe es diese nicht, wüssten wir zumeist nichts von einander, gewiss nichts von diesem fernen und doch so wichtigen Zweig in Bolivien (außer Melitta vermutlich !) Diese Tradition hat uns auch über sehr böse Zeiten hinweg getragen, in der es tatsächlich keine Werte mehr zu geben schien. Teil dieser Tradition ist wiederum die Einbindung in das immerhin noch vorhandene System und Netzwerk der Adelsverbände. Ja, auch ich hielt das für anachronistisch, gerade im fernen Bolivien ist mir jedoch bewusst geworden, wie sinnvoll und geradezu notwendig auch solche Traditionen sind. Tradition ist nicht nur schmückendes Beiwerk, nicht das "von" in unserem Namen, es mag jeder selbst wissen, ob er darauf stolz ist oder nicht. Aber Tradition ist eine Kraft, die gerade in dieser mobilen, fluktuativen Welt den notwendigen Halt, die Wurzeln gibt, um nicht beliebig und belanglos durcheinander gewirbelt zu werden. Tradition ist ein Wert, der sich gerade im Zeichen der Auflösung vieler Werte als haltbar erweist und der länderübergreifend überall anerkannt ist. Tradition mag in früheren Zeiten oft hinderlich und gelegentlich auch lebensfremd gewesen sein, in unserer offenen, bewegten Welt ist sie eine wirkliche Chance. Auch das kann man in Bolivien lernen !

Nun stellt sich mit dem Begriff der Tradition immer zugleich auch die Frage, was denn eigentlich konkret "tradiert" werden kann und soll. Das ist eine gewiss schwer zu beantwortende Frage, aber sich diese Frage stellen, darin wiederum liegt der Wert der Tradition.

In diesem Sinne ist uns in Bolivien mehr noch als bisher die patriarchalisch dominierte, aber wiederum von den Adelsverbänden eifrig bewachte Genealogie bewusst geworden. Die in Bolivien herrschende spanische Tradition ist da viel offener, wie natürlich auch bei uns und sogar im internationalen regierenden Adel vieles im Fluss ist.

Daran knüpft sich die Frage, ob wir eigentlich noch eine "deutsche Familie " sind , wir Deutschen haben sogar "die Mehrheit verloren" mit fallender Tendenz.

Was ergibt sich generell aus dieser Feststellung, dass wir längst eine Familie mit internationaler Ausrichtung sind ? Hat dies Auswirkungen auf die Satzung unseres Familienverbandes und auf die Genealogie ? Es ist nicht das erste Mal, dass wir auch anlässlich der Familientage darüber diskutieren, aber gewiss nicht das letzte Mal.

Ich habe oben angedeutet, dass wir bezüglich einiger formeller Handhabungen, zum Beispiel im Umgang mit der Genealogie, keinesfalls ganz frei in unseren Entscheidungen sind, wenn wir nicht die Tradition "brechen" wollen, was auch wiederum einem Harakiri gleich käme. Aber es gilt, gangbare neue Wege zu suchen.

Es ist gewiss kein Zufall, dass andere Organisationen ganz ähnliche Probleme haben, zum Beispiel die Kirchen. Ich erinnere an die gegenwärtigen Spannungen in der katholischen Kirche, Der bolivianische Zweig der Familie ist im übrigen katholisch !

Kommt unser nächster Vorsitzender aus Bolivien ?

Bericht von Detlof, P2

März 2013